Verleugnet, verhöhnt, vergessen
Zur mangelnden feministischen Solidarität in Folge des 7. Oktobers
Vortrag
Der globale Zusammenhang war einerseits noch nie so dicht und der Einzelne so intensiv und durchdringend vergesellschaftet wie heute. Er ist durch und durch Produkt einer Weltwirtschaft und Weltkultur. Andererseits durchläuft jeder meritokratisch organisierte Bildungsinstitutionen, ist jeder ökonomisch vereinzelt und die Kultur ist in zentralen Dimensionen individualistisch. Sie betont und belohnt Einzigartigkeit, Genius, Kreativität – solange sie marktgängig sind.
Während der Grad der Vergesellschaftung und damit der Abhängigkeit vom System steigt, steigt das glatte Gegenteil, ein individualistisches Selbstideal ebenso. Kollektivierung und Individualisierung bilden zwei in sich vermittelte Gegenpole, die unreflektiert eine negative dialektische Dynamik aufrechterhalten und befeuern. Allerdings sind die beiden Pole nicht gleichberechtigt. Die Übermacht des Systems ist im Wortsinne gewaltig. Jeder Einzelne ist als Einzelner ohnmächtig und abhängig. Der subjektive Blick auf die soziale Objektivität ist von sozialer Angst gekennzeichnet: Die Angst „nicht voranzukommen“ oder nur geduldet, mitgeschleift oder gar exkludiert zu werden.
In dieser Situation greifen viele auf einen Modus der Konflikterarbeitung zurück, den man narzisstisch, verstanden als normalpathologischen Idealtyp, nennen kann. Es ist eine Art Schiefheilung, ein verunglückter Reparationsversuch mit Krankheitsgewinn. Dieser Typus verdrängt die Angst und verleugnet seine naturale und/oder weltgesellschaftliche Embeddedness bei unbewusst fortbestehenden Symbiosewünschen. In einer Kompromissbildung zwischen Individualität und Kollektivität wählt er eine identitätsstützende exkludierende Wir-Gruppe-Identität (Ethnie, Nation, Religion).
Dieser individuelle normalpathologische Narzissmus ist zur Vergesellschaftung wahlverwandt. Charakteristisch für ihn ist die Gleichzeitigkeit einer Identifikation mit imaginären Kollektiven und einer idealisierten Selbstvorstellung, hinter der verdrängte Angst, Ohnmacht und Wut lauern. Charakteristisch für den normalpathologischen Narzissmus ist das Nebeneinander von falscher kollektiver und falscher individueller Identität. Narzissmus kann man so fassen als Karikatur von Autonomie, Nationalismus als Karikatur von Solidarität.
Im Vortrag soll der Begriff des Narzissmus exponiert und seine Verbindung zum Autoritarismus diskutiert werden. Aus dieser Perspektive stellt sich auch der Begriff der Identität in anderem Licht dar.
Lutz Eichler ist Inhaber der Professur für gesundheitsbezogene Soziale Arbeit an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut (TfP) in Frankfurt. Buchveröffentlichung: „System und Selbst. Arbeit und Subjektivität im Zeitalter ihrer strategischen Anerkennung“, transcript 2013.
Die Veranstaltung ist Teil der Reihe Identität oder Befreiung?
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