Verleugnet, verhöhnt, vergessen
Zur mangelnden feministischen Solidarität in Folge des 7. Oktobers
Vortrag
Postkoloniale Theorien gewinnen weltweit einen immer größeren Einfluss im akademischen, politischen und medialen Bereich. Was als Versuch begann, den spezifischen Bedingungen und Erfahrungen in kolonial geprägten Gesellschaften sozialwissenschaftlich Rechnung zu tragen, ist zum Universalentwurf einer kritischen Thematisierung des ‚westlichen‘ Verständnisses von Vernunft, legitimer politischer Ordnung und wissenschaftlichem Weltbezug geworden.
Postkoloniale Theorie untersucht die Entstehung und Reproduktion eines ‚aufgeklärten westlichen Subjekts‘ durch projektive Konstruktion eines zugleich herabgewürdigten und beherrschten ‚Anderen‘ ebenso wie die Frage, ob es jenseits dieses ‚westlichen‘ Verständnisses und seiner Verquickung von ‚Wissen und Macht‘ ‚Narrative‘ geben kann, mit denen sich die ‚Anderen‘ der herabwürdigenden Repräsentation durch den Westen entziehen können.
Nicht erst seit den Debatten über den postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe oder über die Kunstschau documenta fifteen rücken aber blinde Flecken und Probleme postkolonialer Ansätze zunehmend in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Tagung wird einige dieser Probleme thematisieren: Die Offenheit einiger postkolonialer Zugänge für neurechten Ethnopluralismus, die paternalistische Behandlung der ‚Anderen‘ des westlichen Diskurses, die Dethematisierung antisemitischer und okzidentalistischer Haltungen und die postkolonialen Umdeutungen des Holocaust werden in den Blick genommen.
Programm:
10.30h-11.30h: Matheus Hagedorny – Postkolonialismus von rechts – Das Islambild der Neuen Rechten
11.45h-12.45h: Randi Becker – „Der Holocaust als Anwendung kolonialer Praktiken auf Europa“ – Aimé Césaire und die Rezeption seines Werks heute
13.45h-14.45h: Tim Stosberg – „Once Victims Themselves“ – Edward Said und der postkoloniale Antisemitismus
15h-16h: Dr. Steffen Klävers – „Decolonizing Auschwitz?“ – Postkoloniale Holocauststudien in der Kritik
16.15: Abschlussdiskussion (Moderation: Ingo Elbe)
10.15h-10.30h
Begrüßung
10.30h-11-30h
Matheus Hagedorny – Postkolonialismus von rechts – Das Islambild der Neuen Rechten
Neue Rechte distanzieren sich vom „pauschalen Islamhaß“ (Götz Kubitschek) in ihrer Szene. Was auf den ersten Blick überraschend erscheint, liegt ganz auf der Linie von mehr als sechzig Jahren Ideologiearbeit, die auf eine Entwestlichung der Bundesrepublik zielt.
Vordenker der Neuen Rechten ließen sich von antikolonialen und antiimperialistischen Bewegungen des ‚Globalen Südens‘ inspirieren, wähnen das postnazistische Deutschland selbst als Opfer universalistischer Zivilisierungsmissionen und zeigen trotz aller Einwanderungsfeindschaft Respekt für den Islam. Postkoloniale Rassismuskritik, die eine aufgeklärt-liberale deutsche Identität durch diskriminierendes „Othering“ von angeblich zivilisationsfernen Muslimen gefestigt sieht, trägt bei antiwestlichen Rassisten kaum.
Es gilt, die Begriffe Orientalismus, Othering und antimuslimischer Rassismus mit den ambivalenten Islambildern der äußersten Rechten in Deutschland zu konfrontieren. Dabei zeigt sich neben philo-muslimischem Rassismus auch ein deutscher Orientalismus von rechts, der nicht darin aufgeht, „den Orient zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken.“ (Edward Said)
Matheus Hagedorny studierte Philosophie, Neuere Geschichte und Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bonn. Er promoviert an der Universität Potsdam über Islamverständnisse der Neuen Rechten, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Texte erschienen u.a. in Neue Zürcher Zeitung, Jungle World und neues deutschland. Letzte Veröffentlichung: Dem Eigenen fremd, dem Anderen vertraut. Neurechte Perspektiven auf Islam und Muslime. In: Vojin Sasa Vukadinovic (Hg.): Randgänge der Neuen Rechten. Bielefeld 2022, S. 283–310.
11.45h-12.45h
Randi Becker – „Der Holocaust als Anwendung kolonialer Praktiken auf Europa“ – Aimé Césaire und die Rezeption seines Werks heute
Aimé Césaire gilt als ein Vordenker der heutigen postkolonialen Studien und Begründer der Négritude. Er wird heute häufig als Stichwortgeber genutzt, insbesondere wenn Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Holocaust behauptet werden. Berühmt geworden ist vor allem seine These, dass der Nationalsozialismus „kolonialistische Methoden auf Europa angewendet hat“ und Hitler „der innere Dämon“ des weißen Europa sei. Der Vortrag geht der Frage nach, wie Césaire das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus bestimmt und wie sein Werk heute rezipiert wird.
13.45h-14.45h
Tim Stosberg – „Once Victims Themselves“ – Edward Said und der postkoloniale Antisemitismus
Edward Saids 1978 veröffentlichtes Werk Orientalismus gilt als Gründungstext der Postkolonialen Studien. Hierin stellt Said die These auf, dass der westliche Blick auf den Orient, d.h. den Nahen Osten sowie die arabische Welt, maßgeblich von eigenen Projektionsbedürfnissen und Herrschaftsansprüchen geprägt sei. Warum sich die Analyse in seinem Werk auf den israelisch-arabischen Konflikt verengt und inwiefern Said hierdurch zum Vordenker eines postkolonialen Antisemitismus wurde, versucht Tim Stosberg in seinem Vortrag aufzuzeigen. Insbesondere zwei Thesen Saids werden in den Blick genommen: Dass Jüdinnen und Juden in Israel ein durch den Westen unterstütztes kolonialistisches Projekt betreiben würden und sie hierdurch „weiß“ geworden seien.
15h-16h
Dr. Steffen Klävers – „Decolonizing Auschwitz?“ – Postkoloniale Holocauststudien in der Kritik
Im Vortrag werden postkoloniale Ansätze zur Deutung des Holocausts behandelt, die seit einiger Zeit zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Insbesondere im sogenannten Historikerstreit 2.0 wurden immer wieder Positionen vorgebracht, die eine Verbindung zwischen der Analyse des Nationalsozialismus und des Holocausts einerseits und Fragestellungen der Kolonialgeschichte und der postkolonialen Theorien andererseits herstellen. Der Grund hierfür wird in der Notwendigkeit ausgemacht, einer Provinzialisierung der deutschen Erinnerungskultur entgegenzuwirken, in der der Kampf gegen Antisemitismus und das Gedenken an die Shoah Teil eines deutschen „Katechismus“ (Dirk Moses) geworden seien.
Positionen, die den Vernichtungsantisemitismus als ein Spezifikum des Nationalsozialismus hervorheben, aus der sich eine historische Präzedenzlosigkeit ableiten lässt, werden zunehmend als nicht mehr zeitgemäß und eurozentrisch abgelehnt. Behauptet wird, auch der Antisemitismus könne aus einer postkolonialen Perspektive heraus interpretiert werden. Im Vortrag werden die folgenden Fragen behandelt: Wie verlaufen die Positionen der Debatte? Was genau bedeutet die „Singularität“ des Holocausts – und was nicht? Gibt es Bezüge zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus? Nicht zuletzt soll thematisiert werden, welchen Stellenwert der Staat Israel in diesen Debatten spielt.
16.15
Abschlussdiskussion
Matheus Hagedorny studierte Philosophie, Neuere Geschichte und Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bonn. Er promoviert an der Universität Potsdam über Islamverständnisse der Neuen Rechten, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Texte erschienen u.a. in Neue Zürcher Zeitung, Jungle World und neues deutschland. Letzte Veröffentlichung: Dem Eigenen fremd, dem Anderen vertraut. Neurechte Perspektiven auf Islam und Muslime. In: Vojin Sasa Vukadinovic (Hg.): Randgänge der Neuen Rechten. Bielefeld 2022, S. 283–310.
Randi Becker studierte Sozialwissenschaften, Soziologie und Politische Theorie. Sie promoviert zur Anschlussfähigkeit von Antisemitismus in Rassismuskritiken. Hauptberuflich arbeitet sie als Dozentin an einem Bildungszentrum sowie als Lehrbeauftragte an verschiedenen hessischen Universitäten. Letzte Publikation: Zur Integration von Antisemitismus in aktuelle (queer-) feministische Theorien am Beispiel von Angela Davis und Jasbir Puar. In: L. Schmidt u.a. (Hg.): Antisemitismus zwischen Kontinuität und Adaptivität. Interdisziplinäre Perspektiven auf Geschichte, Aktualität und Prävention, Göttingen
Steffen Klävers hat in seiner Dissertation "Decolonizing Auschwitz?: Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung" (Berlin: de Gruyter 2019) eine Kritik an den gegenwärtigen Versuchen postkolonialer Deutung des Holocausts formuliert.
Tim Stosberg ist Doktorand am Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vergleichende Regierungslehre an der Universität Passau und im SoSe 2024 Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der JLU Gießen. Er beendete sein Studium der Politikwissenschaft sowie Internationalen Studien/Friedens- und Konfliktforschung mit einer Arbeit zur postkolonialen Perspektive auf den arabisch-israelischen Konflikt am Beispiel des Werks von Edward Said. Letzte Veröffentlichung „Once Victims Themselves“: Edward Saids Orientalism als Wegbereiter des postkolonialen Antisemitismus im Sammelband Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik (Edition Tiamat, 2022). (https://www.kritischebildung.de/neuigkeiten/probleme-des-antirassismus/) In Vorbereitung: „Dekolonialisierung ist KEINE Metapher“. Zur Kritik postkolonialer Perspektiven auf den arabisch-israelischen Konflikt, in: Zarbock, Luca et al. (Hrsg.), Antisemitismus zwischen Latenz und Leidenschaft. Kommunikations- und Äußerungsformen des Judenhasses im Wandel, Verlag Barbara Budrich, Leverkusen 2024, i. E.
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