Zur Dokumentation und anlässlich der Bereitstellung der ersten Videomitschnitte von unserer Konferenz „Grenzen der Aufklärung. Der 7. Oktober und die Gegenwart des Antisemitismus“ vom 20.-22. Juni 2024 in Köln auf unserem YouTube-Kanal publizieren wir an dieser Stelle einen bislang unveröffentlichten Konferenzbericht von Christoph David Piorkowski, der ursprünglich im Tagesspiegel erscheinen sollte:
Das genozidale Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 hat sich unauslöschlich ins jüdische Traumagedächtnis eingetragen. Was den Schmerz potenziert, ist das dröhnende Schweigen weiter Teile der Mehrheitsgesellschaft, der Umstand mangelnder Solidarität, den viele Jüdinnen und Juden heute einmal mehr erfahren – auf weltpolitischer Bühne genauso wie in den Gesellschaften zahlreicher Länder.
Noch schwerer wiegt das in vielen Bereichen völlig entsicherte Ressentiment, der Bruch mit dem postnationalsozialistischen Tabu einer offenen Feindschaft gegen Juden. Es bleibt die scheinbar paradoxe Erkenntnis: Ein unverhohlen mörderischer Antisemitismus bringt weiteren Antisemitismus hervor, anstatt seine Ächtung durch die Mehrheitsgesellschaft.
Da stellen wissenschaftliche Großkonferenzen zu Antisemitismus und dessen Kritik einen Hoffnungsschimmer im Jammertal dar. In Köln hat die Gesellschaft für Kritische Bildung mit Unterstützung der Amadeu Antonio Stiftung, der Universität Wuppertal und weiteren Trägern unlängst eine solche Tagung auf die Beine gestellt. Auf der Konferenz „Grenzen der Aufklärung. Der 7. Oktober und die Gegenwart des Antisemitismus“ diskutierten Historikerinnen, Sozialwissenschaftler und Philosophinnen verschiedene Facetten der Feindschaft gegen Juden und erläuterten zentrale Aspekte der Forschung.
Den einleitenden Vortrag zur Frage, was Antisemitismus eigentlich ist, bestritt Lars Rensmann, Antisemitismusforscher und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Passau. Es folgten Panels zu islamischem und rechtem Judenhass, zu Antisemitismus an den Universitäten und in der Kunstwelt, zu den Untiefen postkolonialer Theorie und zahlreichen anderen Aspekten des Themas. Antisemitismus, so zeigte sich wieder, kittet auch scheinbar konträre Milieus in weltanschaulicher Weise zusammen.
Antisemitismus und Rassismus
Das antijüdische Ressentiment, so Rensmann im Einklang mit dem Großteil der Forschung, folge keiner einfachen Abwertungsformel, und sei anders strukturiert als klassischer Rassismus. Denn Antisemitismus definiert seine Objekte als schwach und übermächtig zugleich. Die Juden werden zwar als Schädlinge gedeutet, doch auch als heimliche Herrscher der Welt. Antisemitismus sei mithin das Muster jedes zeitgenössischen Verschwörungsnarrativs, eine Ideologie mit Allerklärungsanspruch, die ein gesundes und grundgutes Volk mit einer krankhaften und bösen Elite kontrastiere. Wo rassistische Projektionen ihre Objekte vornehmlich abwerten, gilt „der Jude“ als nachgerade teuflischer Frevler, als Urgrund und Prinzip alles Bösen auf der Welt und nicht zu akzeptierende Form der Existenz. Dabei erscheint er auch als begründendes Prinzip einer als bedrohlich empfundenen Moderne, als ein Zersetzer der „natürlichen Ordnung“. In ihm wird die abstrakte „Gesichtslosligkeit“ der Herrschaft von Ökonomie und Politik gleichsam wahnhaft personifiziert. Auch wenn Antisemitismus und Rassismus unterschiedlich strukturiert seien, würden sie etwa im neurechten Weltbild häufig miteinander verknüpft, sagt Rensmann. Der Verschwörungsmythos vom „großen Austausch“ etwa sieht die Migranten aus muslimischen Ländern als Objekte eines clandestinen Plans der „Globalisten“, die heimische Bevölkerung Europas zu ersetzten. Die „Eliten“ würden dabei teilweise offen, doch häufiger implizit als Juden gelabelt.
„Nach der Shoah zeigt sich der Antisemitismus meist in Umwegkommunikation, in einer camouflierten Weise“ so Rensmann. Seine aktuell häufigste Artikulation finde er in sogenannter „Israelkritik“, in der klassisch antisemitische Topoi häufig eins zu eins aufzufinden seien. „Israel ist heute die primäre Projektionsfläche antisemitischer Phantasien“, sagt Rensmann. So ließe sich das Ressentiment artikulieren, ohne „die Juden“ beim Namen zu nennen. Wenn Israel als „Kindermörder“ dargestellt werde, werde der im kulturellen Habitus verankerte Vorwurf vom rituellen Kindsmord aktiviert, der Juden im Mittelalter angedichtet wurde.
Antisemitismus an den Universitäten
Dabei sei Antisemitismus an westlichen Unis, vor allem in England und den USA, vielfach normalisiert, erklärten Rensmann und andere Forschende. Daher sei es auch nur wenig verwunderlich, dass derzeit an zahlreichen Universitäten judenfeindliche Protestcamps ins Kraut schießen, auf denen sich als links verstehende Akteure islamistische Hasspropaganda verbreiten. Der Politikwissenschaftler Stefan Müller wies darauf hin, dass viele Akademiker leider auch in Deutschland mehr um die Freiheit zur Hassrede besorgt seien als um die Freiheit von jüdischen Studierenden, die sich aus Furcht vor dem selbstgerechten Mob oft exmatrikulieren und das Land verlassen würden. Als skandalös werde oft weniger der Antisemitismus als vielmehr dessen Skandalisierung empfunden. Auf der Tagung waren die Forschenden sich einig, dass Gewalt gegen Juden, wie schon oft in der Geschichte, in den Vorwurf des Antisemitismus projiziert werde, als „Angriff auf die Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit“. Als wäre nicht der dämonisierende Boykott israelischer Künstlerinnen und Forscher das Problem, sondern der in Unis und Kulturinstitutionen nach wie vor seltene Boykott der Boykotteure.
Postkoloniale Irrungen
Diese Schieflage habe auch mit der Modeerscheinung des Postkolonialismus zu tun, einer Ideologie, die an zahlreichen Unis längst die wichtigen Diskurse dominiere und radikalen Hasse gegen Israel schüre. So waren sich die Forschenden Ingo Elbe, Tim Stosberg, Randi Becker und Jan Gerber einig, die deren unterkomplexe und geschichtsklitternde Vorstellungswelt kritisierten.
Denn postkoloniale Theoretiker:innen predigen in der Regel eine „manichäische Teilung“ zwischen dem oppressiven Okzident hier und dem unterdrückten globalen Süden dort. Die Verfolgungsgeschichte der Juden und ihre nach wie vor leidvolle Gegenwart haben in dieser an der „Colourline“ vollzogenen Grenzziehung keinen Platz. Antisemitismus wird, wenn überhaupt, bloß als eine Subform von Rassismus begriffen. Oder als eine Diskriminierung, die bloß während der Zeit des NS-Regimes bestand, und deren Opfer heute nicht mehr die inzwischen „weißen“ Juden, sondern die „orientalisierten“ Araber seien. So sieht es etwa der Altvater des Postkolonialismus, der US-Amerikaner Edward Said.
Israel gilt gegen die historischen Fakten als siedlerkolonialer und künstlicher Staat – als wäre nicht jeder Staat ein künstliches Gebilde. Auch das unzweideutig antisemitische Motiv vom „wurzellosen Bösen“, das die Volkskultur zersetzt, prägt viele postkoloniale Debatten. Die von überall her geflüchteten Juden– ob äthiopisch, aschkenasisch oder misrachisch – werden als „weiße“ Kolonialherren betrachtet. Dass in Folge des panarabischen Angriffskrieges auf das frisch gegründete Israel 1948 nicht nur 700.000 Palästinser:innen von Flucht und Vertreibung betroffen waren, sondern auch 900.000 Jüdinnen und Juden ihre arabischen Heimatländer verlassen mussten, wird im antizionistischen Diskurs nicht erwähnt. Auch dass Israel in erster Linie ein antikolonialer Flüchtlingsstaat ist, und mit kolonialer Ausbeutung wenig zu tun hat, wird in diesem ambiguitätsfeindlichen Denken unterschlagen.
Dabei ist der Übergang von einer Lesart, die Israel als kapitalistisch-imperialistisches Kolonialprojekt verfemt, hin zu einem Verschwörungsglauben, der hinter Imperialismus und Kapitalismus grundsätzlich „den Juden“ vermutet, in Theorie und Praxis durchaus fließend. So erklärte der Politikwissenschaftler Jakob Baier von der Uni Bielefeld, dass in den postkolonial geprägten Kunstszenen von heute die „Befreiung vom Zionismus“ immer wieder als ein gleichsam universaler Kampf gedeutet werde. „Die Freiheit aller lässt sich in diesem Denken nur durch eine Lösung des Israel-Palästina-Konfliktes herstellen“, sagt Baier. Dieses erlösungsantisemitische Phantasma fand sich auch schon in dem raunenden Gedicht „Was gesagt werden muss“ des deutschen Schriftstellers Günther Grass und ist bei sogenannten propalästinensischen Aktivisten Gang und Gebe. Ein regionaler Konflikt zwischen Bevölkerungsgruppen wird zum Schicksalskampf der ganzen Menschheit verklärt.
Auch Lars Rensmann führte aus, dass auf den erhofften Sieg der zum Fetisch avancierten Palästinenser häufig der Wahnglaube einer Befreiung der Menschheit von einem vermeintlich global agierenden Zionismus projiziert werde. Der Weltverschwörungsmythos klingt hier unverhohlen an.
Die faschistisch-islamistische Achse
So findet sich Antizionismus auch keineswegs nur im linken oder islamistischen Milieu. Er ist auch keine neue Form des Antisemitismus, sondern geht mit diesem schon seit Anbeginn einher, war sehr prominent in der NS-Ideologie und prägt auch die Weltbilder neurechter Denker. Der Politikwissenschaftler Nikolai Schreiter machte klar, dass es im Antisemitismus mitnichten eine Arbeitsteilung zwischen rechten Antisemiten auf der einen und linken oder islamischen auf der anderen Seite gebe: eine Vorstellung, der zufolge die einen vermeintlich für Holocaustrelativierung und Verschwörungsmythen und die anderen für Israelhass zuständig seien. Die verschiedenen Motive des Antisemitismus würden vielmehr bruchlos miteinander verschränkt. Schon Eugen Dühring, einer der Begründer des modernen Rasse-Antisemitismus, erklärte, mit Israel bekäme „das, was sich über die Welt hinschlängelt, eine Art Kopf“ und würde die Welt noch umfassender „einschlängeln“. Bei dem NS-Ideologen Alfred Rosenberg wird der Zionismus als „neues Aufmarschgebiet für Weltbewucherung“ gebrandmarkt. Und Adolf Hitler nannte das Projekt eines jüdischen Staates im britischen Mandatsgebiet Palästina „die letzte vollendete Hochschule ihrer internationalen Lumpereien“. Bei den völkischen Rechten der Gegenwart fänden sich diese Motive ebenfalls, sagt Schreiter. Auch wenn sich manche Rechtspopulisten als israelsolidarisch ausgeben, um den Hass auf Migranten zu nobilitieren.
Dabei sei der arabische Antizionismus und ganz besonders jener der Palästinenser ohne die NS-Geschichte kaum vorstellbar, erklärte der Historiker Martin Cüppers, wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg an der Universität Stuttgart. Die Nazis hätten die palästinensische Nationalbewegung von Anfang an antisemitisch agitiert. Der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, half den Nazis dabei, das Gewächs des westlich-modernen Verschwörungsantisemitismus mit Sprossen altislamischer Judenfeindschaft zu kreuzen, und über propagandistische Radiosender in Teilen der islamischen Welt zu verbreiten.
„Deutsche Antisemiten haben den Konflikt in Palästina schon sehr früh wahrgenommen und heizten die islamische Judenfeinschaft an“, sagte auch die Historikerin Ulrike Becker vom Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) an der Katholischen Hochschule Aachen. Der Antisemitismus sei weniger die Folge als vielmehr die Ursache des Zwists, meint Cüppers. Dieser habe auch Jassir Arafat und die PLO und natürlich den Hamas-Islamismus geprägt – was keineswegs bedeutet, dass die Palästinenser sämtlich antisemitisch waren oder sind. „Dennoch kann man festhalten, dass es den Nahostkonflikt ohne den Input westlicher Antisemiten und speziell der NS-Ideologie so nicht geben würde.“
Falsche Projektionen
Die Ergebnisse der Tagung machten nochmal deutlich: Antisemitismus ist ein Querfrontphänomen, er formt eine illustre Empörungsgemeinschaft. Scheinbar widersprüchliche Akteure finden sich im Hass auf „den Juden“ zusammen. So befürwortet die Nazi-Partei NPD, die sich inzwischen in „Die Heimat“ umbenannt hat, die sich progressiv wähnende Bewegung BDS, die zum Boykott gegen Israel aufruft. Postkolonial inspirierte Studierende, etwa an der Columbia University, verehren die Qassam-Brigaden der Hamas und preisen die Märtyrer der Mordbataillone. Islamisten und Faschisten sind ohnehin vereint in ihrem Hass auf Frauen, auf Demokratie, und auf „die Juden“ als vermeintlichem Prinzip der Moderne.
Wer Antisemitismus wirklich bekämpfen will, muss seine „falschen Projektionen“ entlarven – auch das machten die zahlreichen Forscher:innen deutlich. Wie die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zeigten, gleicht das antisemitische Bewusstsein die Wirklichkeit seiner Wahrnehmung an, anstatt wahrzunehmen, was wirklich geschieht. Oder wie Jean-Paul Sartre formulierte: „Nicht die Erfahrung schafft den Begriff vom Juden, sondern das Vorurteil fälscht die Erfahrung.“
Antisemitismus wird immer als Notwehr ausgegeben, ist geprägt durch die Umkehr von Täter und Opfer. Die unterbewussten Vernichtungsgelüste gegen den vermeintlichen „Zersetzer der Ordnung“ werden den Opfern schließlich selbst unterstellt. So scheint es legitim, eben diese zu vernichten. Wenn sie sich dann wehren, und sei es mit Krieg, fühlt sich der antisemitische Geist in seiner krankhaften Wahrnehmung bestätigt, dass die Juden die eigentlichen Völkermörder seien. Die vielfältigen Widersprüche der modernen Gesellschaft bescheren Antisemitismus als handgerechter Weltdeutungsformel nach wie vor eine hohe Anziehungskraft. Auch wenn die Kritik gegen Windmühlen kämpft, kennt die Aufklärungsarbeit keine Alternative.
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