Ein empirischer ‚Policy Report‘ der Uni Mannheim verbreitete in den letzten Tagen die Botschaft, dass Antisemitismus in der akademischen Linken nicht weit verbreitet sei. Am 8. Oktober, einen Tag nach dem Jahrestag des antisemitischen Pogroms der Hamas, veröffentlichten Prof. Marc Helbling und Prof. Richard Traunmüller über die Website der Universität Mannheim den Report „Pro-Palästina-Proteste, Antizionismus und Antisemitismus in Deutschland“. Der Report basiert auf unbrauchbaren Prämissen, ist empirisch unsauber und belegt seine Kernaussage nicht ausreichend. In den sozialen Medien erfüllt er trotz dieser Mängel die Funktion, das besagte Milieu von Antisemitismus freizusprechen – und mit diesem auch gleich das ganze ‚pro-palästinensische‘ Spektrum. Häufig wurden die Ergebnisse reduziert auf die Botschaft: Es gibt keinen weit verbreiteten Antisemitismus in der akademischen Linken, sondern nur eine weitgehend unproblematische pro-palästinensische Haltung. Im Folgenden eine kurze Übersicht über die Mängel der Studie und ihre diskursive Funktion in einer Bubble, in der der Vorwurf des Antisemitismus stets schwerer wiegt als die antisemitische Wirklichkeit.
Die Studie erhebt die Einstellungen der aktuellen Studierendengeneration entgegen der Intention nicht gesondert
Ein großes Problem des kurzen Reports besteht darin, dass er sein eigenes Vorgehen nicht transparent genug macht. Eingangs heißt es, dass die „Toleranz gegenüber israelkritischen bis -feindlichen Positionen (...) an deutschen Universitäten (...) erhoben” wurde, dann aber, dass bei der „Bildung (…) lediglich zwischen Personen mit und ohne Universitätsabschluss unterschieden” wurde. Da die Kritik an den gegenwärtigen universitären Protesten sich vornehmlich auch an den dort aktiven Teil der Studierendengeneration richtet und der Report den Anschein erweckt, als würde er Daten für die Debatte auf dem Campus seit dem 7. Oktober 2023 liefern, muss deutlich festgehalten werden, dass das offenbar gar nicht mit der Studie belegt werden kann, weil diese Gruppe nicht gesondert befragt wurde. Wenn es so ist, dass insbesondere antizionistischer Antisemitismus im letzten Jahr gerade in jüngeren Alterskohorten deutlich anschlussfähiger geworden ist und sich zudem radikalisiert hat, wie Experten und Betroffene es gleichermaßen anmahnen, sind Einstellungen vergangener Studierendengenerationen, selbst wenn die Personen noch unter 35 sind, nicht geeignet, um das aktuelle Ausmaß zu ermitteln. Die Studie ist also so ungenau, dass sie gar nicht das erhebt, was sie selbst als Ziel formuliert.
Die Eingrenzung der Fragen zum traditionellen Antisemitismus ist verzerrend
Der quantitativen Studie zugrunde liegen jüngere Erhebungen von Daniel Allington, David Hirsh und Louise Katz, die den traditionellen und antizionistischen Antisemitismus mit einer Reihe von Fragen ermitteln. Diese wurden durch die Autoren des Reports ergänzt durch solche, die eine pro-palästinensische Einstellung erheben sollen. Helbling und Traunmüller haben die Items von Allington, Hirsh und Katz aber jeweils von 12 auf 3 reduziert. Die Auswahl von 3 Fragen aus einem größeren Set basiert auf einer Entscheidung, die nicht kritisch eingeholt wird: Im Report wird also an keiner Stelle transparent gemacht, was aus welchem Grund weggelassen wurde.
Bereits der quantitativen Verringerung des ursprünglichen Fragensets liegt offenbar die Annahme zugrunde, dass eine derartige Reduktion angestellt werden kann, ohne dass sich damit die Ermittlung von Antisemitismus qualitativ ändert. Diese Reduktion der Items führt dazu, dass nicht das ganze Spektrum antisemitischer Vorstellungen erfasst wird. Übrig bleiben beim Set der Items, die ‘traditionellen Antisemitismus’ erfragen sollten, gerade solche, die sehr eindeutig sind, die vom akademischen Milieu, dessen Einstellung zu erfragen Ziel der Studie ist, dadurch aber auch sehr leicht als antisemitisch erkannt werden können. Aufgrund des von den Autoren selbst erwähnten Effekts sozialer Erwünschtheit ist gerade in diesem Milieu zweifelhaft, ob die Zahlen die Wirklichkeit treffen. Da später in der Auswertung und Visualisierung diese drei Items auch vollständig zusammengefasst werden, wie auch bei den beiden anderen Dimensionen (antizionistischer Antisemitismus und Pro-Palästina-Einstellung), beeinflusst die Entscheidung in der Auswertung eklatant die Möglichkeiten, den Zusammenhang antisemitischer und antizionistischer Überzeugungen darzustellen.
Die Erfragung der Pro-Palästina-Einstellungen maskiert antisemitischen Terrorismus
Während die drei Items des traditionellen Antisemitismus das Spektrum dieser Einstellung auf das krasse Extrem reduzieren, ist die verwendete Skala für pro-palästinensische Einstellungen unbrauchbar, weil die drei Items völlig Unterschiedliches abfragen.
Das erste Item, das nach der Befürwortung eines palästinensischen Staates fragt, stellt, wie die Studie selbst wiedergibt, einen breiten gesellschaftlichen Konsens dar. Das zweite Item fragt dann aber qualitativ gänzlich divergierend, ob der palästinensische Terrorismus als Befreiungskampf interpretiert werden soll. Der dem Terror der Hamas und anderen gewalttätigen Gruppen zugrunde liegende Antisemitismus wird damit schon in der Fragestellung einfach als bloß ‚pro-palästinensisch‘ maskiert. Der antizionistische Antisemitismus des palästinensischen Terrorismus, der am 7. Oktober 2023 seinen eliminatorischen Gehalt für alle Welt sichtbar zeigte, wird durch die Methode des Zusammenziehens mit der legitimen Frage nach einem Staat unsichtbar gemacht.
Das Statement „Die Palästinenser werden von den Israelis seit Jahrzehnten unterdrückt“ schließlich ist so vage, dass unklar ist, ob die arabischen Israelis, die Bewohner des Westjordanlands oder gar auch die Bewohner des seit 2005 nicht mehr besetzten Gaza-Streifens gemeint sind. Hinter der Zustimmung zu diesem Statement können sich pragmatische Einstellungen, schlichtes Unwissen oder eine ideologisierte Betrachtung von Israel als Siedlerkolonialstaat verbergen.
Israelbezogener Antisemitismus wird maskiert und verharmlost
Die Forschung zeigt, dass israelbezogener Antisemitismus quer durch die Milieus vertreten wird. Die vorliegende Studie bestätigt diesen Befund weitgehend („Insgesamt bestehen damit hinsichtlich des Antizionismus nur vernachlässigbare Unterschiede nach Alter, politischer Orientierung und Bildung“, S. 5). Am Anfang der Studie wird durch die Übernahme des Items die Qualität des Antizionismus als Antisemitismus noch klar benannt: Übernommen wurden „zwei Antisemitismus-Skalen von Allington, (...) eine für traditionellen und eine für antizionistischen Antisemitismus“. In der Auswertung der Studie wird diese Skala dann aber meist nur noch als „Antizionismus“ benannt und dem „klassischen Antisemitismus“ entgegengestellt und damit bereits in der Bezeichnung verharmlost.
Noch deutlicher wird das Vorgehen unter der Überschrift, die als Bullet-Point der Auswertung fungiert: „Pro-palästinensische Einstellungen hängen nur in geringem Maße mit Antisemitismus zusammen.“ Hier haben Helbling und Traunmüller entschieden, dass die signifikante Korrelation für Antisemitismus nur dann vorliegt, wenn diese zum Traditionellen vorliegt („Für den entscheidenden Zusammenhang zwischen traditionellen Antisemitismus und pro-palästinensischer Haltung (...)“, S.7) – explizit nicht aber mit „Antizionismus“. Dieser verliert hier also ganz gezielt auf einmal die nähere Qualifizierung als Antisemitismus, die bei der Übernahme der Skala noch zugestanden wurde.
Damit ist, und zwar offenkundig intendiert, Antisemitismus auf einmal nur noch das, was unter den traditionellen Antisemitismus fällt, und Antizionismus auf einmal rein definitorisch kein Antisemitismus mehr, obwohl die Studie doch selbst auf S. 5 feststellt: „Eine etwas andere Einschätzung ergibt sich allerdings, wenn man antizionistischen Antisemitismus betrachtet. Dieser ist in Deutschland unter den jungen und mittleren Alterskohorten, die sich politisch links verorten in der Tat am stärksten ausgeprägt.“ Die Studie wechselt so ständig die Maßstäbe der Untersuchung, diskutiert an keiner Stelle, wieso man entschieden hat, die zugestandene Korrelation von israelbezogenem Antisemitismus zu Pro-Palästina-Einstellungen geringer zu werten, und verharmlost durch diese Entscheidung den israelbezogenen Antisemitismus.
Schließlich muss man noch nach den Grenzen der Items zum antizionistischen Antisemitismus fragen. Selbst bei Akteuren wie Achille Mbembe, die Israels Politik mit einer an den Holocaust gemahnenden „Nekropolitik“ in Verbindung bringen und teils christlich antijüdische Stereotype mit Israel assoziieren, findet man Lippenbekenntnisse wie die, Israel habe das Recht, in Frieden zu leben. Da es insbesondere im sich humanistisch gebenden deutschen akademischen Milieu gang und gäbe ist, Israels Existenzrecht zu betonen, nur um anschließend alle Bedingungen zur Sicherung dieses Existenzrechts als ‚unverhältnismäßige Gewalt‘, ‚Apartheid‘ oder ‚Rassismus‘ zu titulieren, sind Bekenntnisse zum Existenzrecht Israels inzwischen weitgehend ungeeignet, um anti- oder proisraelische Haltungen abzufragen.
Der Antisemitismus zwischen den Zeilen
Sogar mit diesen Mängeln offenbart die Studie Bedenkliches: Die Ergebnisse der Zustimmung zum Terrorismus, auch wenn diese im Einzelnen nicht transparent gemacht werden, deuten eine frappierende antisemitische Haltung an. Ein weiteres Ergebnis bringen die Autoren der Studie lapidar in einer Fußnote ganz am Anfang unter. Darin heißt es: „Betrachtet man nur diejenigen als frei von Antisemitismus, die die vorgelegten Fragen „voll und ganz ablehnen" ergeben sich folgende Zahlen: Die Ansicht, Juden seien „mehr hinter Geld her“, lehnen etwas mehr als die Hälfte (52 Prozent) voll und ganz ab, die Aussagen, Juden hätten „zu viel Einfluss in der Welt“ oder instrumentalisierten den Holocaust, lehnen nur etwa ein Drittel der Befragten kategorisch ab (39 bzw. 33 Prozent).“
Die Studie zeigt also, wenn eine etwas andere Interpretation der Ergebnisse gewählt worden wäre, dass große Teile der deutschen Bevölkerung einer eindeutig antisemitischen Aussage zustimmen oder sie wenigstens nicht ganz ablehnen. Die weite Verbreitung von Antisemitismus zur Apologie nur eines bestimmten Milieus umzubiegen, ist dagegen tendenziös. Dass die quantitativ als gar nicht so groß bewertete Verbreitung in einem Milieu noch dazu die Wirklichkeit der alltäglichen antisemitischen Vorfälle an Universitäten verschleiert, macht überdies den zynischen Charakter dieser Studie aus: selbst, wenn nur eine kleine Minderheit antisemitische Ansichten verbreitet, stellen sie dennoch ein manifestes Problem für Jüdinnen und Juden sowie für israelsolidarische Personen dar.
Fazit: Die Studie als Stichwortgeber antizionistischer Debatten
Eine empirische Studie hat keinen umfassenden Einfluss darauf, wie sie in sozialen Medien rezipiert wird. Dass die Studie beispielsweise am Anfang klar benennt, dass sich auf den wöchentlichen Demonstrationen „pro-palästinensische Anliegen auf unheilvolle Weise mit offener Israel- und Judenfeindlichkeit vermischen“, geht im affirmativen Retweeten und Reposten der Studie seitens ihrer aktivistischen Advokaten meist unter. Dennoch ist die Verkürzung, wie gezeigt, ein Problem der Studie selbst: Es bleibt der Eindruck der Trennung zwischen dem ‚eigentlichen‘ Antisemitismus, den schon qua Design bloß die Rechten verbreiten, und dem gar nicht so richtigen Antisemitismus, der am Ende ja nur eine harmlose, wenn nicht sogar zu begrüßende Solidarität mit Palästinensern in ihrem bloßen Befreiungskampf meint.
Diese naive Aufspaltung, die nicht erst das Ergebnis der Studie ist, sondern schon vorausgesetzt und in der Auswertung unbegründet wiederholt wird, fällt hinter alle Erkenntnisse der neueren Antisemitismusforschung zurück und ist daher für die öffentliche Debatte über Antisemitismus hochgradig destruktiv. Die Studie hätte einen Beitrag leisten können zur Beantwortung der Frage, wie viele Leute sich wirklich für die Palästinenser interessieren und sie nicht nur als Vehikel für ihren eigenen Antizionismus benutzen. Stattdessen wird sie nolens volens bereits jetzt – und erwartbar gesteigert auch in den kommenden Wochen, in denen die Universitäten und der dortige antizionistische Protest ins Wintersemester starten – zum Mittel für diejenigen, die damit den auch an Universitäten grassierenden Antisemitismus abwehren und ausblenden.
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