Rezension im Archiv für kritische Gesellschaftstheorie
Mit den Themen Holocaust-Gedenken, Zugehörigkeit von Muslimen zur deutschen Gesellschaft und „Diskurs über ‚muslimischen Antisemitismus‘“ (Ö 168) schreibt sich die Studie der Anthropologin Esra Özyürek in die jüngsten Debatten um die deutsche Erinnerungskultur ein. Der Titel Stellvertreter der Schuld bringt die These auf den Punkt, dass die muslimische Bevölkerung in Deutschland eine zentrale Rolle dabei spielt, wie ‚ethnische Deutsche‘ mit der Erinnerung an die Shoah umgehen, und zielt offenkundig darauf ab, hier neue Akzente zu setzen. In seiner exzellenten Rezension in der FAZ hat Thomas Thiel diese These von einem vermeintlichen „Rollentausch im Gedächtnistheater“ allerdings bereits gründlich dekonstruiert. Er hält es zu Recht für „abenteuerlich“ anzunehmen, Deutsche ohne Migrationsgeschichte „wollten Schuld und Scham an die Muslime im Land abschieben“. Belegen lässt sich diese Annahme nämlich nicht, denn, wie der Rezensent ironisch anmerkt, „öffentliche Äußerungen, die Muslime in Haftung für den Holocaust nehmen“, sind „aus guten Gründen rar gesät“. Thiel weist auch zu Recht darauf hin, dass die wenigen Projekte zur Antisemitismus-Prävention für muslimische Jugendliche, die Özyürek für die Studie begleitet hat, viel zu wenig empirische Daten für die ehrgeizigen Thesen liefern, und kritisiert, dass diese Thesen zudem auf den tönernen Füßen von veralteten oder falsch interpretierten Polizeistatistiken und Antisemitismusberichten stehen (Thiel 2025). Um zu verstehen, warum ein Buch, in dem „so gut wie alles falsch“ ist (Thiel 2025), überhaupt übersetzt wurde, ist es hilfreich, einen Blick auf den Kontext der umstrittenen deutschen Erinnerungskultur zu werfen, die seit einiger Zeit Gegenstand einer neuen Art von Kritik ist.
(Eine Kurzfassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel „Schuld und Zuweisung“ in der Jüdischen Allgemeinen (am 14.08.2025 in der Druckausgabe, am 18.08.2025 online: https://www.juedischeallgemeine.de/kultur/schuld-und-zuweisung/))
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